Foto: Cha gia Jose: Zytgloggenturm - Observers (CC BY-SA 2.0)

Die Suche nach sich selber

Anmerkungen zu einer Anekdote von Rabindranath Tagore

Heutzutage sind viele Menschen auf der Suche. Auf der Suche nach dem Sinn des Lebens, nach Gesundheit, nach Klarheit, nach Antworten. Und noch mehr Menschen geben Antworten in Form von Tipps und Ratschlägen. Auch in Form von Büchern und Videos.

Mich erinnert das an eine alte Geschichte von Rabindranath Tagore.

Rabindranath Tagore

Rabindranath Tagore

Die Geschichte handelt von einem Mann, der seit Tausenden von Jahren und etlichen Inkarnationen auf der Suche nach Gott ist. Sein Herz brennt danach, Gott zu begegnen und eins zu werden mit der bedingungslosen Liebe, und so sucht er ihn in den entferntesten Winkeln des Universums. Kein Rückschlag kann ihn entmutigen, keine Enttäuschung ist so groß, dass sie ihn veranlassen würde, seine Suche aufzugeben. Seine Freude ist unermesslich, als er nach dieser endlos langen Zeit der Suche plötzlich an einem Haus vorbei kommt, auf dem geschrieben steht: „Haus Gottes“. Das Herz des Mannes macht Luftsprünge, er ist selig, endlich am Ziel seiner Reise angekommen zu sein. Voller Aufregung und freudiger Erwartung stürzt er die Treppen zum Eingang des Hauses hinauf, doch kurz vor der Tür hält er plötzlich inne. In seinem Kopf geht es rund: „Was, wenn dies tatsächlich das Haus Gottes ist? Dann ist meine Suche zu Ende. Dann habe ich nichts mehr, ich bin ein Nichts.“  Über viele Tausende Jahre hatte er sich mit der Suche nach Gott identifiziert. Sie war zu seinem Lebensinhalt und zu seiner Persönlichkeit geworden. Sie hatte ihm Identität, Sinn und Wichtigkeit verliehen. Die Suche hatte sein Ego genährt und gepflegt. Er hatte viele interessante Geschichten über seine Gottessuche zu erzählen – lustige und leidvolle, aber in Wirklichkeit hatte er nie die Absicht, Gott wirklich zu finden. Und so wendet er sich voller Panik vom Haus Gottes ab. Seine größte Sorge ist es, dass Gott herauskommen und ihn willkommen heißen könnte, noch bevor er überhaupt angeklopft hat. Und so zieht er sich die Schuhe aus, schleicht langsam und so leise wie nur möglich die Treppen wieder hinunter, nimmt seine Beine in die Hand und rennt und rennt und rennt so schnell er kann davon. Und heute? Heute ist dieser Mann immer noch auf der Suche nach Gott. Aber er weiß jetzt, wo Gott wohnt, und damit weiß er auch genau, wo er ihn nicht suchen darf.

Menschen suchen überall – im Außen oder stürzen sich auf Äußerlichkeiten. Sie machen alles Mögliche, aber Gefühle fühlen, anhalten, wahrnehmen was Jetzt ist, tatsächlich sich dem Augenblick überlassen, einfach Nichts tun und wahrnehmen was jetzt geschieht, das tun sie nicht.

Warum eigentlich nicht?
Weil Nichts tun, dann doch nicht so einfach ist, wie es sich anhört. Alte Gefühle, traumatische Erfahrungen, überlebte Verhaltensmuster und Konditionierungen halten uns davon ab, wirklich einfach Nichts zu tun. Da braucht es oftmals Unterstützung, damit man sich dem Nichts tun überlassen kann.

Von Uwe Kemper · 9. Januar 2016