Wenn die Wildpferde kommen
Eine Zen Geschichte
Es war einmal ein alter Mann, der zur Zeit Lao Tses in einem kleinen chinesischen Dorf lebte. Der Mann besaß ein wunderschönes Pferd, einen Schimmelhengst, um den ihn alle im Dorf beneideten.
Als der König von dem Hengst hörte, wollte er ihn unbedingt besitzen. Er bot einen fantastischen Preis, aber der alte Mann sagte: „Dieses Pferd ist mein bester Freund. Ich kann doch meinen besten Freund nicht verkaufen.“ Der König bot mehr und mehr Geld, aber der alte Mann gab sein geliebtes Pferd nicht her, obwohl er in bitterer Armut lebte.
Eines Tages war der Hengst verschwunden. Nachbarn kamen und sagten: „Du Dummkopf, warum hast du das Pferd nicht an den König verkauft? Nun ist es gestohlen worden, und du hast gar nichts mehr. Was für ein Unglück!“
Der alte Mann schüttelte den Kopf: „Keiner weiß, ob es ein Unglück war. Das Pferd ist nicht im Stall. Mehr wissen wir nicht.“
Ein paar Tage später war der Hengst wieder da. Und mit ihm waren zwölf Wildpferde gekommen, die sich dem Hengst angeschlossen hatten.
Jetzt waren die Leute im Dorf begeistert. „Du hast Recht gehabt“, sagten sie zu dem alten Mann. Das Unglück war in Wirklichkeit ein Glück. Diese herrlichen Wildpferde – nun bist du ein reicher Mann… “
Der Alte sagte: „Das Pferd ist wieder da. Das wissen wir. Ob die Wildpferde ein Glück sind, kann niemand sagen. Das Leben geht seinen eigenen Weg. Man soll nicht urteilen.“
Die Dorfbewohner schüttelten den Kopf über den wunderlichen Alten. Warum konnte er nicht sehen, was für ein unglaubliches Glück ihm widerfahren war?
Am nächsten Tag begann der Sohn des alten Mannes, die Pferde zu zähmen und zuzureiten. Nach einer Woche warf ihn eine Stute so heftig ab, dass er sich beide Beine brach.
Die Nachbarn im Dorf versammelten sich und sagten zu dem alten Mann: „Du hast Recht gehabt. Das Glück hat sich als Unglück erwiesen. Dein einziger Sohn ist jetzt ein Krüppel. Und wer soll nun auf deine alten Tage für dich sorgen?“
Aber der Alte blieb gelassen und sagte zu den Leuten im Dorf: „Mein Sohn hat sich die Beine gebrochen. Wer weiß, was das zu bedeuten hat? Warten wir ab…“
Ein paar Wochen später begann ein Krieg. Der König brauchte Soldaten, und alle wehrpflichtigen jungen Männer im Dorf wurden in die Armee gezwungen. Nur den Sohn des alten Mannes holten sie nicht ab, denn den konnten sie an seinen Krücken nicht gebrauchen.
„Ach, was hast du wieder für ein Glück gehabt!“ riefen die Leute im Dorf. Der Alte schüttelte den Kopf und sagte: „Wer weiß, wer weiß … Das Glück ist am Ende nur bei dem, der vertrauen kann.“